Die Aufgabe, die mir gestellt wurde, ist einen Artikel zum Thema „Offenheit aus Sicht des Zen Buddhismus“ zu schreiben. Nun ist Zen dafür bekannt, dass es ohne grosse Umschweife direkt zum Essentiellen kommt. Wenn jemand zu mir in den Tempel käme und mich fragte „Was ist Offenheit?“ wäre meine Antwort „Von woher haben Sie die Offenheit gesehen?“. Die Antwort startet einen Dialog, um die grundsätzliche Frage zu klären. Das ist notwendig bevor der Austausch über Details beginnen kann.
Wenn der Gast nun sagt „Ich weiss es nicht.“, dann wäre meine Antwort „Gute Antwort! Aber lassen Sie es uns noch etwas konkretisieren. Mein Grossmeister Pohwa Sunim hat gesagt:
“Am Anfang war das Wort, und das lebendige Wort war mit Gott, und der Logos war Gott. Wenn du verstanden hast, dass es keinen Weg gibt, es zu sagen, dann solltest du wissen, wie es zu sagen ist, denn am Anfang war das Wort. Zen beseitigt Verwirrungen und ist kein Weg, um zu lehren.”
„Nun, woher haben Sie die Offenheit gesehen? Gehen wir Sitzen und finden es heraus.“ – damit würde ich abschliessen.
Nun ist meine Aufgabe diesmal aber eine andere. Es ist kein Gast zu mir in den Tempel gekommen, sondern ich soll einen mehrseitigen Artikel schreiben. Das erfordert eine andere Herangehensweise. Ich freue mich über diese Aufgabe. Heutzutage sind wir häufig so beschäftigt, dass es manchmal scheint als gäbe es keine Gelegenheit sich zum Essentiellen detailliert auszutauschen. Das Ergebnis ist eine Art Oberflächlichkeit, die sich von Tag zu Tag ausstreckt – eine Monotonie, welche einen Jahre später die Frage stellen lässt wohin all die Zeit verschwunden ist. Man fühlt sich traurig, dass sie vorüber ist. Jetzt, da wir etwas Zeit haben, und es wissen, nutze ich gerne diese Zeit und spreche in etwas mehr Detail über dieses Thema, welches wichtig erscheint.
Beginnen wir nochmals von vorne. Was ist Offenheit? Es ist mit Sicherheit ein Wort, welches einerseits von vielen gefordert wird und im öffentlichen Austausch von Meinungen steht. Andererseits ist es in verschiedenen Domänen jeweils ein wohldefinierter und zentraler Begriff. In der Psychologie ist Offenheit neben Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus eine der fünf Hauptdimensionen. In der Software-Entwicklung ist Offenheit eine grundlegende Eigenschaften, welche definiert was mit einer Anwendung gemacht werden darf. Ist die Software offen und frei? Man stellt die Frage: Ist sie frei wie in Frei-Bier oder frei wie in Rede-Frei-heit?
Was ist Offenheit? Es scheint ein Menge unterschiedlicher Dinge zu sein. Kann man die Frage überhaupt kanonisch beantworten? Nein. In jedem Diskurs müssen sich beide Parteien (hier Verfasser und Leser) erst mal über den Rahmen des Diskutierten einig sein. Ansonsten redet man aneinander vorbei und verschwendet gegenseitig wertvolle Zeit. Nähern wir uns der Angelegenheit an. Ich soll „Offenheit“ aus Sicht des Zen diskutieren. Zen ist weder an Meinungen, Einstellungen oder Sichtweisen interessiert – besonders nicht meiner – noch ist es ein Zweig der Psychologie oder der Software Entwicklung.
Hätten wir also schon mal einiges ausgeschlossen. Das ist etwas wert, denn wir wissen worüber wir nicht diskutieren. Gehen wir statt dessen zurück zum Ursprung – der grundsätzlichen Bedeutung des Wortes „Offenheit“ in der Deutschen Sprache. Der Duden definiert Offenheit als „Aufgeschlossenheit; Bereitschaft, sich mit jemandem, etwas unvoreingenommen Auseinanderzusetzen“. Dazu lässt sich aus Sicht des Zen etwas sagen. Der dritte Zen Patriarch, Sosan Zenji, aus dem 6ten Jahrhundert nach Christus hat ein Gedicht „Vertrauen in den Geist“ geschrieben welches wie folgt beginnt:
“Der höchste Weg kennt keine Schwierigkeiten, ausser dass er sich weigert Vorlieben nachzugehen.
Nur wenn befreit von Hass und Liebe, zeigt er sich vollkommen und ohne Verkleidung.”
Die Definition des Duden des sich unvoreingenommen Auseinandersetzen ist eine Grundhaltung im Zen.
Diese gesunde und natürliche Grundhaltung zur Offenheit wird in der modernen Gesellschaft häufig als Gleich-Gültigkeit interpretiert. Alles und alle sind gleich. Das geht soweit, dass der Diskurs auf politischer Ebene geführt wird, wo immer mehr die Ergebnis-Gleichheit gefordert wird. Nicht nur sollen alle Gleich-Berechtigung und Chancen-Gleichheit haben was in einer modernen Demokratie grundsätzlich der Fall ist, es wird mit Nachdruck daran gearbeitet sich um gleichartige Ergebnisse zu bemühen. Alle Menschen sollten in den Genuss einer vollen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gleich-Behandlung kommen. Dies umfasst die Gleichbehandlung unabhängig von Geschlecht, Rasse, ethnischer und nationaler Herkunft, vom Alter, Familienstand, von der sexuellen Ausrichtung, von einer Behinderung, vom sozioökonomischen Status beziehungsweise von Religion oder Weltanschauung.
Oberflächlich betrachtet klingt das angenehm, freundlich und fair – „alle sind gleich“ – wer mag nicht daran mitwirken diese wahre Utopie zu schaffen? Es wird dafür argumentiert, dass das Individuum einfach Offenheit zeigen muss in allen Belangen des Lebens gleich-gestellt zu sein. Hier tun sich Abgründe auf, denn Offenheit bedeutet nicht, dass alles egal, einerlei oder gleichgültig ist. Alles hat eine (Rang-)Ordnung. Die Ordnung, welche am ehesten real und nicht soziokulturell geschaffen ist, ist diejenige Ordnung, welche sich über die Zeit am wenigsten verändert – und das ist nicht notwendigerweise die Ordnung, welche am einfachsten gesehen werden kann. Wenn man ein Blatt genau beobachtet mag es den Beobachter dem Baum gegenüber blind machen. Der Baum kann ihn dem Wald gegenüber blind machen. Und manche Sachen, welche am allermeisten real sind, können gar nicht „gesehen“ werden. Beispiele für solche Sachen sind Hierarchien oder Kultur. Die eigene Kultur sieht man zum Beispiel nicht wirklich. Erst wenn man eine Reise ins ferne Ausland macht sieht man, dass sich auf einmal alle „komisch“ verhalten. Für die Menschen dort ist ihr Verhalten selbstredend gar nicht komisch, es ist genauso gut wie unser Verhalten. Es ist einfach nur anders. Es ist eine andere Kultur. Man sieht sie nicht direkt, man sieht nur wenn sie fehlt oder anders ist. Mit den Hierarchien ist es nicht anders. Es lässt sich wie bei der Kultur debattieren, dass sie soziokulturell geschaffen sind, dabei gibt es Hierarchien in Tieren schon seit einer halben Milliarde Jahren. Das ist eine so lange Zeit, dass man für unser Vorstellungsvermögen sagen kann, sie sind permanent.
Dieses Wissen ist so grundlegend, dass die Bibel in Mose 1 beginnt mit:
“Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.”
Die fundamentalste Realität ist das Chaos. Und Chaos versteht man grundsätzlich gar nicht, man hat nicht einmal ein Konzept davon. Das Wort Gottes transformiert Chaos in Ordnung – zu Beginn der Zeit. Das geht automatisch einher damit, Werte-Hierarchien zu schaffen. Das Urteilen über Werte ist eine Voraussetzung, um zu handeln.
Nun könnte man sagen ich sei Zen Mönch und das habe ja sicher nichts mit der Bibel zu tun. Schliesslich steht im „Logos des Herzens“, einem im Zen Buddhismus viel rezitierten Text, gleich im ersten Abschnitt:
“Form ist Leerheit, Leerheit ist Form, Form ist nichts anderes als Leerheit, Leerheit ist nichts anderes als Form.”
Ist dann nicht alles gleich? Müssen wir uns nicht offen dafür zeigen?
Im Absoluten, in Gott ist alles vereint. Gleichzeitig gibt es im Relativen Himmel und Erde. Mein Urgrossmeister Hye-Am hat gesagt „Die ganze Welt ist eine Blume.“ Ein Schüler hat geantwortet „Aber jedes Blütenblatt ist klar geformt.“ Alles ist eins, aber unterschieden.
Wenn man das Neue nicht annehmen kann, ist man verloren in der Gleichgültigkeit – oder in der Ideologie. Die Dinge auf der Welt sind komplex, und das Leben ist hart. Es ist einfach, auf dieser Reise verloren zu gehen. Daher lehren uns alle Religionen wie wir uns im Leben ausrichten und verhalten sollen. Es ist nicht alles gleich. Daher ist zu allem „Ja“ sagen (müssen) nicht Offenheit. Das ist Tyrannei. Offenheit ist nicht Gleichwertigkeit, wo allen alles gehört und alle mit allen machen was sie wollen. Sonst landen wir bei Sodom und Gomorrah.
Offenheit bedeutet den grossen Zweifel zu haben und den Logos ganz genau zu untersuchen. Offenheit bedeutet zu akzeptieren, dass man ein Teil des Grösseren ist. Das Individuum ist in Hierarchien eingebettet und muss darin seinen Platz finden.
Auf der Suche danach wird es Chaos geben, es werden sich Abgründe auftun. Dieses Chaos muss man dulden. Man muss den eigenen Schatten annehmen und integrieren. Warum? Sogar im Garten Eden, in der perfekten Ordnung, muss man die Schlange dulden. Keine Wand, egal wie hoch, wird sie draussen halten.
Offenheit kann man nur leben wenn der Logos das ultimative Ziel ist. Diese Arbeit ist kontinuierlich, daher ist der Weg das Ziel. Offen kann man nur sein wenn man das Neue ein-ordnen kann. Und einordnen kann man es nur wenn es Ordnung gibt. Den Logos studieren heisst Verantwortung zu übernehmen. Und so entsteht auf der Gratwanderung zwischen Ordnung und Chaos ein sinnvolles Leben.
Was ist dann das richtige Mass an Offenheit? Ganz einfach: Wenn Gast und Gastgeber klar definiert sind! Wenn es zu offen ist, gibt es keinen Gastgeber und dadurch keinen Gast mehr. Wenn es zu verschlossen ist, gibt es keinen Gast und dadurch keinen Gastgeber mehr. Zu offen oder zu verschlossen sein schliessen Gast und Gastgeber aus. Wenn beide anerkennen, dass sie Teil eines Grösseren sind und ihre Verantwortung mit ihrem ganzen Wesen übernehmen, dann entstehen Harmonie, Respekt, Reinheit und Gelassenheit.
Offenheit ist persönlich; es kann nur von Innen kommen. Es kann nicht von Aussen bestimmt werden – weder durch Gesetze, noch kann man sich selbst dazu zwingen. Offenheit ist Ihr Leben und Sterben und braucht Ihr ganzes Wesen. Und nur Sie, der Leser, kann es machen! Und wie machen Sie es? Im Dialog. Der Austausch des Logos ist der einzige Weg dorthin. Der Dialog wird von Herz zu Herz geführt.
Kommen wir zurück zur Frage von Meister Pohwa Sunim vom Anfang dieses Artikels. Was ist der Logos? In diesem Kontext sage ich: Offenheit ist wenn man „nein“ sagen kann. „Nein sagen können“ ist eine Kompetenz, weil man dann Teil des Grösseren bleibt und gleichzeitig die grösstmögliche Verantwortung übernimmt.
Was sagen Sie?
Leben und Tod sind die grossen Angelegenheiten.
Sei sparsam mit deiner Zeit.
Alles ist vergänglich und vergeht schnell.
Die Zeit wartet auf niemanden.