Das Leben des Eremiten Niklaus von Flüe

Am 21. März 1487 starb Bruder Klaus. Etwa im Jahre 1493 gab die Obwaldner Regierung dem
Berner Magister Heinrich Wölflin den Auftrag zur ersten amtlichen Lebensbeschreibung des
grossen Eidgenossen.
HEINRICH WÖLFLIN, geb. 30. Iuni 1470, war Burger von Bern. Er trug den Titel eines
„Meisters der freien Künste“. Am 9. April 1493 wurde er vom Rate der Stadt Bern zum Schul-
meister gewählt, Der Ruf des hochgelehrten jungen Mannes drang über den Brünig nach Ob-
walden. In diese Zeit fällt der ehrenvolle Auftrag der Obwaldner Regierung, das Bruder-Klausen“ Leben zu beschreiben. Jahrelang sammelte Wölflin mündliche Berichte von Augenzeugen, schriftliche Notizen, eidliche Aussagen und studierte eingehend das <Sachsler-Kirchenbuch>. Um 1501 lag die Biographie als lateinische Handschrift vor. Sie soll hier in knapper, dokumentarischer Sprache dem Volke, das Bruder Klaus verehrt, zugänglich gemacht werden.

AUS WÖLFLINS VORWORT:
Männer von Unterwalden! Ich bin Eurer Bitte nachgekommen und habe Eure glaubwürdigen Zeugnisse gesammelt und zusammengestellt, so dass sich in klarer Reihenfolge ein Bild vom Leben und den lobenswerten Sitten des Niklaus von Flüe ergibt. Ich habe nichts darin aufgenommen, was nicht nach eidlichen Zeugnissen als erwiesen feststeht, die Ihr nach Eurer Vorsicht schon früher aufgenommen habt.

DIE UNTERWALDNER
Einen der acht eidgenössischen Orte bilden die Unterwaldner. Sie sind von ausgedehnten Wäldern rings umgehen, weshalb sie sich „Silvani“, zu deutsch Waldleute, nennen. Das Land ist liebenswert: hat Brunnen, saftige Wiesen, üppige Weiden. Weinbau gibt es nicht, denn dieses Tal ist zwischen engen, steilen, felsigen Hängen gelegen, auf denen selbst im Sommer der Sclmee kaum schmilzt Der Ackerbau ist spärlich. Doch was hier mangelt, wird von den Nachbarorten leicht erworben. Grossvieh und Kleinvieh gibt es in Menge; es ist des Landes Haupterwerb. An Fischen hat man Überfluss, denn von drei Seen ist das obere Tal durchschnitten, unterhalb bespült der Luzernersee in einer grossen Bucht seine Gestade. Durch diese Lage ist auch das Staatswesen der Unterwaldner zweigeteilt: in Unterwalden
Ob und Nid dem Wald. Der obere Teil besteht aus sechs Pfarreien: Sarnen, Kerns, Sachseln, Alpnach, Lungern und Giswil; der untere aus vier: Stans, Buochs, Wolfenschiessen und Emmetten. Der dichte Kernwald trennt die beiden Teile Unterwaldens. Durch Volksbeschlüsse und Gesetze ist es ausgemacht, dass Nid dem Wald ein Drittel, Ob dem Wald zwei Drittel des UnterwaldnerStaatswesemıs an Recht und Stimme ausmacht. Die jährliche Regierung wird in beiden Teilen durch Volksabstimmımg gewählt, wie es verschiedene andere Eidgenossen tun. Der oberste Beamte ist der Landammann. Wenn dieser auch das Haupt des Staates ist, so unternimmt er dennoch nichts ohne Zustimmung der Volksversammlung.

DIE VON-FLÜE

Im oberen Teile Unterwaldens war ein Geschlecht, das bis zum heutigen Tage nach jenem Berg, auf dem es haust und seine Herden weidet, benannt ist: die Flüher oder Von-Flüe. Es galt als angesehener und frömıner als alle andern und glänzte während mehr als vier Jahrhunderten, zwar mehr durch seine Sitten als durch Reichtum. Dieses Geschlecht trieb Landbau und Viehzucht, und seine Lebensweise war einfach und sparsam. Wohltun war ihm Gewohnheit, dem Gottesdienste und Gebet war es seit jeher treu. Aus diesem Stamme entsprosste den beiden Eltern Heinrich von F lüe und Hemma Rubert im Jahre des Herrn 1417 unser Niklaus, von dem wir hier berichten.

WUNDER ÜBER DER WIEGE
Als Niklaus noch im Mutterschosse war, sah er am Himmel einen Stern, der überstrahlte alle andern. Der ganze Erdkreis war von ihm erleuchtet. Später erzählte er, dass er in seiner Einsamkeit den gleichen Stern wieder gesehen habe, so dass er glaube, es sei derselbe, den er im Mutterschosse geschaut. Auch einen mächtigen Felsen erschaute er damals und jenes heilige Öl, mit dem die Christen in der Taufe bezeichnet werden. All das enthüllte er später als Einsiedler in schlichter Rede einem vertrauten Priester; und ohne sich zu rühmen sagte er, dass diese Gesichte sein eigenes Leben vorbedeutet hätten. Dann fügte er bei, er habe sogleich nach seiner Geburt die Mutter und die Hebamme erkannt und jene felsige Schlucht, durch welche er nach Kems zur Taufe getragen worden sei. In diesem gleichen Teil beschliesse er nun sein Leben. Das alles sei ihm so klar im Gedächtnis, als ob er es im reifen Mannesalter erlebt hätte. Den Priester, der ihn taufte und die beiden Paten habe er auch gekannt, ein Greis nur unter den Umstehenden sei im fremd gewesen. Bei dieser Taufe wurde ihm durch himmlische Fügung der Name Nikolaus gegeben, was „Volksbesiegen“ heisst: denn er sollte die schlimme Welt und ihre Liebe überwinden.

JUGEND AUF FLÜELI
Von früher Jugend an war er der beste Knabe, mit Sittsamkeit und Tugenden geziert. Er achtete die Lehren seiner Ahnen, bewahrte treu das väterliche Erbe. In allem liebte er die Wahrheit, und gegen alle war er gut und edel. Leichtsinn und Übermut war bei ihm nicht zu finden, wie sonst bei vielen Jungen. Die alten Leute ehrte er durch F olgsamkeit. Seine Altersgenossen mahnte er zum göttlichen Dienste, in herzlichem Frieden lebte er mit seinen Brüdem und Schwestern. Nur jenen, welche Unrecht taten, war er lästig und verhasst.
Wenn Feierabend war und man vom müden Tagwerk auf den Äckern und Wiesen heimwärts kehrte, so folgte Niklaus meistens hintennach: allein ging er vom übrigen Hausvolk weg, dass es den andern nicht auffallen sollte und suchte einen heimlichen Ort zum Beten. Erst wenn er seinem Schöpfer Dank abgestattet hatte, ging er nach Hause. Schon in den Jahren seines Wachstums fing er an, sich immer mehr in fronımen Werken zu üben. Da er noch Knabe war, fastete er alle Freitage. Bald aber nahm er es auf sich, durch viermal wöchentliches Fasten die Sinne abzutöten. Die vierzigtägige Fastenzeit hielt er ganz heimlich so streng, dass er im Tag nur einen kleinen Bissen Brot und einige gedörrte Bimen ass, die man damals bei jenen Leuten als Leckerbissen hielt. Wenn er von andem ob solcher grosser Strenge getadelt
wurde, dass sie der Jugend schade, so sagte er, es sei dem göttlichen Willen wohlgefällig.

DER FAMILIENVATER
Nachdem er aus dem Jünglingsalter in die Jahre der Reife erwachsen war, wurde er durch das Sakrament der Ehe mit einer ehrbaren Jungfrau Dorothea vermählt. Solches geschah nicht zufällig oder um sinnlichen Neigungen zu willfahren, sondem aus klarerkannter göttlicher Anordnung. Indem die beiden ihre eheliche Treue niemals, auch nicht mit einem ehrfurcbtslosen Wort verletzten, empfingen sie zehn Kinder, das heisst fünf Knaben und ebensoviele Mädchen. Mit dieser neuen Frucht aus “uraltem Stamm vermehrten sie die Gottesfamilie der Christgläubigen. In Gottesfurcht in aller Güte unterrichtet, suchten
die Kinder ihrem Vater nach Kräften ähnlich zu werden.

IM DIENSTE DER HEIMAT
Niklaus nahm nur auf obrigkeitlichen Befehl an Kriegen teil. Er war der grösste Freimd des Friedens. Doch wo es galt fürs Vaterland zu streiten, wollte er nicht, dass die Feinde wegen seiner Untätigkeit sich unverschämt rühmen könnten. Sobald die Feinde aber überwunden waren, mahnte er nachdrücklich zur Schonung.
Die weltlichen Ehren floh er, so gııt er konnte, er hielt sie für eitel und für wertlos. Mit eindringlichen Bitten ersuchte er seine Gemeinde, ihn mit der Bürde der öffentlichen Gesetze und des Rates nicht zu belasten. Am meisten schrak er vor dem höchsten Ehrenamt des Landes, dem Landammann, zurück: man hätte es ihm oftmals, und schon in jungen Jahren mit einhelliger Volksstimme übertragen, wenn er es nicht mit allen Kräften von sich gewiesen hätte. Umsomehr aber pflegte er das Gebet. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, zu nächtlicher Stunde, wenn die Familie zur Ruhe gegangen war, wenn alles schlief, allein den Schlaf zu unterbrechen und den Pause der Nacht heimlich mit frommer Betrachtung und beharrlichem Gebete wachend zu verbringen.

KAMPF MIT DEM TEUFEL
Der böse Feind alles menschlichen Heils sah voller Neid auf solche Frömmigkeit, in welcher der Gottesmann mit Beten, Fasten und Almosengeben seine Zeit verbrachte. Der Teufel fürchtete, dass solches Beispiel und solche Lehre viele dem höllischen Feuer entreissen könnte. Daher belästigte er mit seiner Hinterlist den Gottesfreund, wo er nur konnte.
Eines Tages ging Niklaus in Begleitung seines Sohnes Johannes durch das Melchtal, das zwischen hohen, abschüssigen Felsen liegt und von der sich windenden Melchaa seinen Namen hat, auf sein Berggut, um seinen Viehstand zu besichtigen. Während der Sohn Futter einsammelte und der Vater als umsichtiger Bauer aufsehiessendes Dorngestrüpp aus dem Wiesland ausreuten wollte, erschien der böse Feind, packte ihn unvensehens und warf ihn rücklings, wohl dreissig Schritte weit, in einen wilden Dornbusch hinunter. Als dies der Sohn bemerkte, suchte er den Vater auf: er fand ihn bewusstlos und am ganzen Körper von Stacheln auf gerissen und trug ihn auf den eigenen Schultern in den Stall hinauf ans warme Feuer. Als Niklaus dort allmählich wieder zu Kräften kam, sprach er geduldig im Erwachen:
„Nun denn, in Gottesnamen! Der Teufel hat mich hart gepackt und hingeworfen. Doch auch in solchem erfüllt sich Gottes Wille!›

GEHEIMNISVOLLE GESICHTER
Zu einer andern Zeit kam Niklaus, um den Viehstand zu sehen, auf die Wiese. Er setzte sich zur Erde und begann nach seiner Art aus innerstem Herzen zu beten und sich der Betrachtung himmlischer Dinge hinzugeben. Da sah er plötzlich aus seinem eigenen Munde eine weisse Lilie von wunderbarem Wohlgeruch bis an den Himmel wachsen. Bald darauf kam das Vieh, aus dessen Ertrag er seine Familie ernährte, an ihm vorübergegangen. Nur eine Weile senkte er den Blick und sah sein Pferd, das schöner als die andern war, mit Wohlgefallen an. Darauf bemerkte er, wie sich die Lilie aus seinem Munde über jenem Pferde niederneigte und von dem Tier verschlungen wurde. Durch diese Vision belehrt, erkannte er, dass einer himmlische Güter nicht erreichen kann, solange er nach irdischem Glücke Sehnsucht hat. Und er verstand, dass Himmelsgaben ersticken müssen, sobald sie mit den Sorgen und Geschäften des
irdischen Lebens vermengt werden, wie jener Same des Gotteswortes im Evangelium, der unter Domen fiel. Noch eine andere Vision ward seinem gottsuchenden Geist zuteil. Von einer weitabliegenden Gegend her sah er einen ehrwürdigen Greis in feierlicher Gewandung ihm entgegenkommen. Der sang ein wundervolles Lied: zuerst einstimmig, dann in drei Stimmen kunstvoll geteilt, zuletzt in einer Stimme von wundersame Harmonie verklingend. In seinem Geiste erkannte er, dass sich die ungeteilte Gottheit in drei geheimnisvoll verschiedenen Personen in diesem Bild ihm habe offenbaren wollen. Der Greis kam näher ımd hat um eine Gabe. Niklaus gab ihm ein Almosen, das jener mit grosser Dankbarkeit und Ehrfurcht annahm. Darauf verschwand er plötzlich. So wurde Niklaus belehrt, dass unter allen Werken der Frömmigkeit das Almosen den ersten Rang einnimmt. Niklaus schritt weiter auf seiner Wanderung der Vision und kam an einen Ort, der nur aus wenig Häusem bestand. Aus diesem ragte ein wımderschöner Palast hervor. Er betrat den Palast und kam darin zu einer
Stiege von zehn Stufen. Darunter sah er einen Brunnen fliessen, aus Öl und Wein und Honig. Er hörte eine Stimme, welche rief: „Wer Durst hat, soll von diesem Brunnen schöpfen“. Er war verwundert und bestürzt und wollte wissen, wo dieser ungewohnte Quell den Ursprung habe. Er stieg die Stufen hinan und fand einen grossen Behälter, ganz voll von gleicher Flüssigkeit. Aus welchen Quellen die Brımnen kamen, konnte er nicht wahrnehmen. Auf diese Weise wurde der Gottesmann noch tiefer in das Geheimnis der göttlichen Dreifaltigkeit eingeweiht. Er erkannte, dass man ohne die Stiege der zehn Gebote nicht zur geringsten Weisheit göttlicher Dinge gelangen kann. Wie wenig Mensch-en sich um Göttliches kümmern, zeigte der geringe Zudrang zu dieser Quelle an. Als er eine kurze Zeit in dem Palast verweilt hatte, ging er auf ein weites Feld. Das war besetzt von unzählbaren Menschen, die alle wie Ameisen geschäftig nach Gewinn und irdischem Reichtum strebten. Die einen machten einen Zaun und liessen niemand ohne Zoll hindurch, andere erbauten eine Brücke über den Fluss und forderten von den Vorübergehenden ein Brückengeld. Wieder andere standen mit Flöten, Pauken und andern Musikinstrumenten bereit: sie spielten aber nicht auf, bevor ihnen der Lohn vorausbezahlt war. Er erkannte, dass das die Eitelkeit der Menschen bedeute: sie alle wollen Vorteil und Geschäft auf dieser Welt und werden dadurch vom Besuch der heiligen Quellen abgehalten
und gehen also ins Verderben. Einst während Niklaus mit häuslicher Arbeit beschäftigt war, kamen drei wohlgestalte Männer, die in Gewand und Haltung adeligen Rang verrieten, zu ihm. Der erste sprach: „Niklaus, willst du dich ganz mit Leib und Seele in unsere Gewalt begeben?“ Jener erwiderte schnell: „Niemand ergebe ich mich, als dem allmächtigen Gott: sein Diener will ich sein mit Leib und Seele.“ Auf diese Antwort wandten sie sich ab und nickten freundlich. Und wiederum zu ihm gewendet, sprach der erste: „Wenn du allein der ewigen Knechtschaft Gottes dich ergeben hast, so verspreche ich dir, dass dich der bannherzige Gott von aller Mühsal und Beschwernis erlösen wird, wenn du das siebenzigste Jahr erreicht hast. Bis dahin sei beharrlich in Geduld, so werde ich dir im ewigen Leben die Siegesfahne mit der Bärenklaue geben. Das Kreuz aber, das dich an uns erinnern soll, sei dir zurückgelassen: trage es!“ Darauf verschwanden sie. Aus diesen Worten erkannte er, dass er in die Glorie der ewigen Heerscharen eingehen werde, wenn er die Drangsal aller Versuchung tapfer überwinde.
Als sicher verbürgt gilt auch das folgende Ereignis. Klaus ging einmal zum Heuen auf seine Wiese. Im Dahinschreiten rief er fromm Gottes Gnade um Beistand an. Da liess sich eine Wolke tief über ihn herab und sprach zu ihm: nutzlos sei es für ihn, sich nur auf eigene Kraft zu stützen und nur gezwungen sich dem göttlichen Willen zu unterwerfen. Denn nichts „sei angenehmer vor Gott als freiwilliger Gehorsam. Durch diese Stimme gewarnt, fing er nun an, die häuslichen Geschäfte, die er bisher mit grossem Fleiss besorgt hatte, gering zu achten und sich dafür um so wachsamer mit hinımlisclıen Dingen abzugeben.

ABSCHIED VON HAUS UND HOF
So wuchs von Tag zu Tag die Frommheit seines Herzens. Die göttliche Gnade trieb ihn also stark, dass den berufenen Gottesfreund die ganze Erde als Wohnstatt nicht mehr zu genügen schien. So teilte er der vielgeliebten Ehefrau, die seine treueste Ratgeberin war, das Vorhaben mit: er möchte nach den Drang seines Herzens den Freuden dieser Welt entsagen und in der Einsamkeit sich einen stillen Ort aussuchen, an dem er ganz der geistlichen Betrachtung obliegen kömıte. Er wusste, dass ihm hierzu das Einverständnis seiner Frau notwendig war. So mühte er sich sehr, sie von dem Gottesruf zu überzeugen. Lange schien es umsonst, sich von den häuslichen Sorgen ganz freizumachen. Daraus fühlte er deutlich, dass sein jetziger Lebensstand als Hausvater seinem Wunsch nach Abkehr von der Welt nur schwer entspreche. Er drang so sehr in seine Frau, dass diese schliesslich vergebliches Flehen aufgab und ihrem Mann zııstimmte. Über das Einverständnis seiner Gattin froh geworden, suchte Klaus nach einem Ort, der ihm für sein Vorhaben günstig schien. Er überlegte sich: wenn er in der
Heimat bliebe, könnte das üble Wort der Missgunst sein Vorhaben heuchlerische Prahlerei benennen. Er nahm Abschied von Frau und Kindern ımd seinem ganzen Hausstand und machte sich zu einer weiten Reise auf. Er wollte nicht bloss ausserhalb der engeren Heimat, sondem weitab von den Grenzen des Schweizerlandes in ferner Fremde Heimstatt suchen.

IN FREMDEM LAND
Als er die Jurakette, welche die Helvetier von den Sequanern scheidet, überschritten hatte, gelangte er nach Liestal, dem ersten Sequanerstädtchen nahe dem Rhein und unweit der Stadt Basel (die nun in diesen Tagen, nämlich im Jahre 1501, den Schweizem sich auf ewig als neunter Ort der Eidgenossenschaft verbündet hat, nicht weniger zu ihrem eigenen Rhum als auch zum Nutzen aller Eidgenossen, als deren mächtiges Bollwerk sie nun herrlich dasteht) . Klaus wandte sich nach einem Nachbardorf. Dort liess er sich mit einem Bauern ins Gespräch ein und erzählte ihm die Ursache seiner Pilgerfahrt. Der Bauer nannte das Vorhaben gerecht und fromm, doch habe er die Ausführung zu wenig gut überlegt. Und dafür wusste der Bauer einen gewichtigen Grımd: der Pilger stamme aus der Eidgenossenschaft, die sei von fremden Nationen gefürchtet und gehasst. Viel besser sei es ihm und sicherer, in der Heimat sich einen Ort zu suchen, als in der Fremde wie ein Flüchtling herumzuirren. Durch diese guten Gründe bewegt, verliess er noch am gleichen Abend den Bauern und übernachtete auf einem nahen
Feld bei einer Hecke. Kaum war er eingeschlafen, umleuchtete ihn ein plötzlicher Strahl vom Himmel. Dabei empfand er einen Schmerz, als würde ihm mit einem Messer der Leib zerschnitten, und wie von einem Seil gezogen malmte es ihn, zurückzukehren in die Heimat. Beim Morgengrauen wanderte er des Weges, woher er gekommen war. Doch kehrte er nicht mehr zu seinen Hausgeschäften zurück, die er für alle Zeit verlassen hatte, sondern ging direkten Weges auf seine Alp tief im Melchtal und verweilte dort in einem dichten Dorngesträuch acht Tage lang ohne Speise und Trank. Kein Mensch wusste von seinem Aufenthalt.

GOTT ZEIGT DIE HEIMAT
Klaus wurde endlich von Jägern, die einer Wildspur folgten, entdeckt und seinem Bruder angezeigt. Dieser, der ihm sehr lieb war, beschwor ihn herzlich, er solle sich doch nicht durch Hunger töten. Darauf sprach Niklaus: „O keineswegs, ich bin ja bis dahin am Hunger auch nicht gestorben.“ In grossem Zulauf pilgerten die Landleute nım an jenen Ort. Er fühlte sich durch Lärm und Unruhe immer mehr belästigt und suchte daher im selben Tale entfemtere und unwegsamere Einsamkeiten auf. Er wanderte durch viele Klüfte und grausige Schluchten. Auf einmal sah er vier Lichtstrahlen wie brennende Kerzen in jenen Teil des Tales, den man Ranft nennt, hinuntersteigen. So wurde er belehrt, dass dort der Ort sei, der ihm vom Himmel zur Lobpreisung Gottes als Heimat auserkoren sei. Im Ranft begann er nun mit Hilfe der Nachbarn ein kleines Häuschen aus Holz zu bauen. Darinnen wohnte er beinahe ein Jahr. Da erkannten die Unterwaldner, dass er nicht aus Heuchelei, sondern aus edler, heiliger Begeisterung ein Gottesfreund geworden war, und sie beschlossen, auf Landeskosten und
durch Fronarbeit daselbst zu Ehren der jungfräulichen Gottesgebärerin eine Kapelle zu erbauen. An die Rückwand dieser Kapelle fügten sie aus Tannenholz eine Klause, nach heimischer Art gezimmert. Von dieser Zelle konnte er ungesehen auf den Altar seiner Kapelle blicken. Dies alles geschah unter Widerspruch seiner Blutsverwandten, welche sagten: für so mühevolle und grosse Aufgaben wäre es nach härterer Prüfung und nach längerer Beharrlichkeit noch immer Zeit gewesen. Man vollendete aber das begonnene Werk und übergab es Niklaus bedingungslos als Wohnung.

DAS WUNDERFASTEN
Nachdem der ehrwürdige Vater diesen Ort bezogen hatte, übergab er sich ganz der göttlichen Obhut. Es ist nicht zu beschreiben, wie er durch Abtötnng, Fasten, Nachtwachen und Gebet bei Tag und Nacht, die ganze Zeit seines restlichen Lebens seinen Körper peinigte.
Doch halten wir die Ordnung ein. Es ist hier nachzutragen, dass er von Liestal heimgekehrt einen vertrauten Priester heimlich empfing und diesem im Vertrauen sagte, dass er nun schon den elften Tag durch Gottes Gnade ohne menschliche Nahrung lebe. Dabei empfinde er weder Durst- noch Hungerbeschwerde. Er solle ihm in Treuen raten, was ihm zu tun gut scheine. Erstaunt ob solchem Geschehen, berührte jener Priester seine Hände ımd Füsse und betrachtete genau die ganze Gestalt. Wie er sein Antlitz blass, die Wangen eingefallen, die Lippen ausgedorrt, den Körper abgemagert und mit blosser Haut bedeckt sah, wusste er klar, dass solches nicht aus eitlem Unterfangen, sondern auf göttliche Eingebung geschehen sei. Er riet ihm an, mit Gottes Hilfe das wunderbare Fasten weiter zıı üben. Mit tapferem Mute unternahm er das und führte es bis zum Lebensende fort, beinahe zwanzig Jahre lang.
Als nun bei seinen Landsleuten das Gerücht von diesem ungewohnten Fasten sich umsprach, begann man in verschiedensten Meinungen darüber zu streiten. Die einen sahen Gottes wundersame Führung und glaubten alsogleich. Andere aber hassten Leichtgläubigkeit und meinten, ob ihm nicht etwa heimlich Speisen zugetragen werden. Die übrigen hielten ihn für einen Betrüger. So wurden denn durch Ratsbeschluss Wachtmänner aufgestellt. Die ganze Ranftschlucht wurde peinlichst überschaut, damit kein Mensch ungesehen weder zu ihm noch von dem Diener Gottes gelangen konnte. Durch einen ganzen Monat wurde die Wacht mit grösster Strenge durchgeführt: man fand auch nicht das Kleinste, was eitle Prahlerei oder religiöse Heuchelei verraten hätte. Damit aber nicht etwa der Stand Unterwalden bei fremden Neidern schmählich verdächtigt werden könne, er briiste sich mit falschem Ruhme einer solchen Gottesgabe, wurde Weihbischof Thomas, der Suffragan des Konstanzer-Bischofs (dessen Diözesarıgewalt ein grosser Teil des eidgenössischen Gebietes unterstellt ist) als Zeuge herbeigerufen. Dieser betrat, als er zur Weihe der Muttergottes-Kapelle kam, die Zelle des Niklaus und verbrachte mit ihm einen grossen Teil des Tages in geistlichen Gesprächen.
Unter anderem stellte er ihm die Frage: welches die grösste und Gott wohlgefälligste Tugend sei. Niklaus erwiderte: der Gehorsam. Da nahm Bischof Thomas alsogleich Brot und Wein, die er um ihn zu prüfen bei sich trug. Er brach das Brot in drei Stücklein und befahl ihm kraft des heiligen Gehorsams, sie zu essen. Niklaus wollte dem Befehl des Kirchenfürsten nicht widerstehen, doch fürchtete er die Beschwernis ob seiner langen Entwöhnung. Auf Bitten hin erlangte er von jenem die Erlaubnis, nur eines der Stücklein, in drei kleine Teile zerteilt, essen zu müssen. Er konnte sie nur mit grösster Mühe geniessen und auch das Schlücklein Wein konnte er kaum ohne Brechen schlürfen. Darüber erschrocken erklärte der hohe
Prälat den Mann als vollkommen bewährt und sagte ihm auch, dass er nicht aus persönlichem Zweifel, sondern allein auf Befehl des wahren Oberhirten von ihm diese Prüfung gefordert habe. Und damit diesen Dingen noch grössere Glaubwürdigkeit zukomme, sei beigefügt: kurz darauf starb Bischof Hermann, und Bischof Otto wurde dem Konstanzer Bistum vorgesetzt. Dieser hatte so Grosses von Bruder Klaus gehört, dass er die Wahrheit selber kennenlernen wollte. Er kam zu dem seligen Mann in seine Einsiedelei. Nachdem er lange Gespräche mit ihm geführt hatte, rühmte er sein Leben und seine Sitten aufs lebhafteste und erklärte öffentlich: er fühle sich begnadet und beglückt, weil der barmlıerzige Gott einen solchen Eremiten in seinem Bistum erweckt habe, der ihm in allen seinen Sorgen Gnade verschaffen werde.

FASTEN ISIT NICHT JEDERMANNS SACHE
Es bildet einen der grössten und zweifellosesten Beweise für die Enthaltsamkeit des Nikolaus, was wir als Begebenheit mit einem gewissen Bruder Ulrich vemehmen. Und das ist glaubhaft überliefert. Zur Zeit als Niklaus noch mit häuslichen Sorgen beladen war, wurde ihm sein Lebensende offenbart. Schon hatte er die Einöde bezogen, da wurde er von jenem Ulrich öfters besucht. Bruder Klaus sprach mit ihm manches über sich selbst und enthüllte ihm auch die Stunde seines Todes, wie sie ihm angezeigt war. Schweigend trug dieser alles das in seinem Herzen und verwahrte es viele ]ahre bei sich selbst. Als nun das letzte Jahr jener bestimmten Lebenszeit gekommen war, ergriff den Mann das Verlangen, die Wahrheit dieser seltsamen Gottesoffenbarung erfahren zu können. Er begab sich in die Einöde zu Bruder Klaus und erhielt von ihm nach langem Bitten die Erlaubnis, in einer nahen Klause sich selber
niederzulassen. Dabei versprach er, sich allen seinen Mahnungen und Befehlen zu fügen. Als beide die Bedingungen bekräftigt hatten, gelangte er auf das Gebet des Nikolaus so weit, dass er selber dreizehn Tage ohne Speise und Trank zubringen konnte und weder von Hunger noch von Durst geplagt wurde. Danach brach Nikolaus ein Brot, das er zu diesem Zwecke sich beschafft hatte, in zwei Hälften. Er reichte Ulrich das eine Stück und befahl, es in den Melchabfluss zu tunken und dann zu essen. Dieser gehorchte sofort, nahm den dargereichten Bissen und ass ihn auf Befehl, doch widerwillig, indem er seine Essbegierde bezwang. Am nächsten Tage, als mit der andern Hälfte des Broteısdas Gleiche geschah, überwältigte den Mann ein solches Hungergefiihl, dass er es nicht fiir möglich hielt, durch eine Speise
jemals wieder satt zu werden. Niklaus hatte das vorausgesehen und inzwischen dafür gesorgt, dass seine Frau genügend Speisen herbeischaffte. Der Sattgegessene fragte nun den Gottesfreund, warum er ihm nicht gestattet habe, länger im Fasten zu verharren. Der gab zur Antwort, es genüge diese eine Prüfung, weil es nach Gottes Willen selbst so angeordnet worden sei. Der fromme Mann blieb fortan an jenem Ort, ass aber fürderhin die gewöhnliche Nahrung und wurde an dem Zeitpunkt, der ihm vorausgesagt war, seines lieben Nikolaus beraubt.

GENÄHRT VOM BROT DER ENGEL
Alle, welche die Nachricht von diesen Dingen hörten, wunderten sich, dass Bruder Klaus ganz gegen die Natur olme Speise und Trank leben konnte. Dem schon genannten Priester, der oft zu ihm kam, vertraute Klaus nach langen Bitten: werm er dem heiligen Messopfer beiwohne und dort den Priester Christi Fleisch und Blut geniessen sehe, so spüre und empfange er davon eine wunderbare Stärkung. Einigen ganz Vertrauten, die in ihn drangen, sagte er: die Betrachtung des Leidens Christi, besonders in dem Augenblick, wo sich die Seele Christi vom Leibe scheide, erfülle sein Herz mit unaussprechlicher Labung. Diese Betrachtung stärke ihn so, dass er gewöhnliche menschliche Nahrımg‘ leicht entbehren könne.
Trotzdem fehlt es nicht an der Vermutung, dass er von Zeit zıı Zeit durch einen geheimnisvollen himmlischen Raben Nahrung erhalte, und dass er nur, um Aufsehen zu vermeiden, von solchen Dingen nicht erzähle. Anfänglich hat Bruder Klaus an hohen Festtagen seinem Pfarrer, später nach Ablauf von zehn Jahren dem eigenen Kaplan alle Monate seine Sünden gebeichtet und das heilige Fleisch und Blut des Herrn empfangen. (Diesem Kaplan hatte er durch die Almosen der Pilger bei seiner Wohnstätte eine ehrenvolle Pfründe gestiftet.)

TAGESORDNUNG EINES HEILIGEN
Bruder Klaus bedeckte das ganze Jahr hindurch den nackten Körper mit einem einfachen, langen Kleid aus Wolle (einer bis auf die Knöchel reichenden, braunen Kutte) . Und er gebrauchte weder Schuhe noch Kopfbedeckung. Zum Schlafen legte er sich ausgestreckt auf den nackten Holzboden. Als Kissen schob er einen Holzblock (oder Stein) unter das Haupt, bei grosser Kälte hiillte er sich in eine schlechte Decke. Gewohnheit seines Tagewerkes war es, dass er den ersten Teil vom Sonnenaufgang bis zum Mittag einsam in heiligen Betrachtungen und Gebeten zubrachte. Nachmittags, wenn der Himmel heiter war, setzte er sich ein wenig an die Sonne. Wenn es ihm nützlich schien, stieg er die gegenüberliegende An-
höhe empor, um jenen frommen Ulrich zu besuchen. Dieser, von der Heiligkeit des Bruder Klaus ergriffen, hatte in der gleichen Einsamkeit seinen Aufenthalt gesucht. Er stand in hohem Rufe inniger Gottseligkeit. Nachdem die beiden über göttliche Dinge zusammen geredet hatten, kehrte Niklaus allein in seine Zelle zurück.

DIE HÖLLE DRINGT INS HEILIGTUM
Trotz seines strengen Büsserlebens konnte Bruder Klaus den Nachstellungen des Teufels nicht entgehen. Unermüdlich plagte der böse Feind den Gottesfreund und belästigte ihn mit Grobheiten und Schmähungen. Oft stürmte er mit solcher Heftigkeit auf die Klause ein, dass das Hüttlein fast einzustürzen drohte. Zuweilen betrat er auch in abscheulicher Schreckgestalt die Zelle, ergriff ihn bei den Haaren und zog den Widerstrebenden zur Tür hinaus. Wenn Satan aber sah, dass Klaus sich durch solche Beleidigungen nicht im geringstenerschüttern liess,
begann er schlauer vorzugehen. So gut er konnte, kleidete er sich in die Gestalt eines reichgeschmückten Edelmannes, erschien auf hohem Rosse und versuchte den Einsiedler also zu überreden: unnütz sei es für ihn, und unerlaubt, abseits von allen Menschen ein solch einsames und viel zu strenges Leben zu führen; auf solche Weise könne er die Herrlichkeit des Paradieses nie erlangen. Wenn er wirklich nach dem Himmel trachte, so sei es klüger, sich den Sitten der übrigen Menschen anzupassen. Klaus aber erkannte die List des Unflates und besiegte die Gefahr mit der Gnade des alhnächtigen Gottes und mit Beistand der unbefleckten Gottesgebärerin.

DER EINSAME
Oft dankte Bruder Klaus vor seinen vertrauten Freunden Gott, dass er fortan, nachdem er einmal mit Einwilligung seiner Gattin die häuslichen Sorgen und Geschäfte aufgegeben hatte, nie mehr von der Sehnsucht geplagt worden sei, heimzukehren in sein Haus. Zuweilen gestattete er zwar seiner Frau und den Kindern, zu ihm in die Einöde zu kommen, um seinen väterlich-heilsamen Rat zu hören: sie sollten durch die Weisheit des Alters belehrt, ihr Leben demütig dem göttlichen Dienste weihen. Nicht allen Pilgern war der Zutritit zum Diener Gottes gestattet, denn Klaus sagte, dass viele doch nicht zur Erbauung, sondern vielmehr zum Nachteil ihres Lebens, nach Art der Pharisäern aufsuchen möchten. Daher entfloh er jenen, deren innere Eitelkeit er durchschaut hatte. Die übrigen aber, die zum Gespräch zugelassen wurden, begrüsste er freundlich und belehrte sie mit Ehrfurcht. Alle, die zu ihm kamen, wurden beim ersten Anblick von Schrecken befallen. Er selber gab als Grund dieses Schreckens an: er habe einmal in der Vision ein menschliches Antlitz von strahlendem Lichtglanz umflossen gesehen, bei dessen Anblick sein Herz vor Schreck erschauerte, als wollte es in kleine Stücke
zerspringen. Völlig benommen und seinen Blick verhüllend sei er zu Boden gestürzt. Aus diesem Grunde möge sein eigener Anblick andern Leuten schreckbar vorkommen.

DER WEISE
Obwohl Nikolaus keine Kenntnis der Buchstaben hatte, wusste er doch aus der Weisheit, die ihm von oben eingegossen war, auch gelehrte Leute von der Unwissenheit zu befreien und in geheime Dinge einzuführen. Wenn aber schlichte Leute zu ihm kamen und ihn über göttliches Recht befragten, antwortete er gütig: ein jeder möge die evangelischen Lehren seines Seelsorgers in ernstem Sinn bewahren und nach seinen Kräften zu verwirklichen suchen.
Nicht selten wurde er in brennenden Fragen, welche die ganze Eidgenossenschaft angingen, beraten. Alle seine Ratschläge mahnten zum Frieden des Vaterlandes, zur Einigkeit mit den Nachbarn, zum Lobe Gottes und zum Gehorsam gegen seine Gebote. Von die aus weiter Ferne kamen, sagte er vor Anwesenden oft aus, dass sie zu dieser oder jener Stunde eintreffen würden. Die Erfüllung solcher Voraussagen konnten viele zu ihrer grössten Verwunderung mit eigenen Augen sehen.

DER WUNDERTÄTER
Wahrhaftig staunen muss man über das, was mir ein Student aus Paris als eigenes Erlebnis berichtet hat. Dieser hatte von Niklaus, dem jüngsten Sohne Bruder Klausens (der sich zum Studium der freien Künste auf der französischen Universität aufhielt), zwei Briefe erhalten, um sie dem Vater in der Heimat zu überbringen. Er verlor aber auf der langen, mühsamen Reise einen Brief aus Unvorsichtigkeit bei den Sequanem. Er fürchtete daher, dass ihm der gute Mann ein wenig zürnen würde und nur mit bebendem Herzen entschloss er sich, ihn aufzusuchen. Als er aber schon beherzten Mutes sich der Ranftkapelle näherte, siehe da kam Nikolaus vom Abhang herunter, den verlorenen Brief in seinen Händen tragend. Er begrüsste den Briefboten freundlich, sagte ihm, dass er wohl im Auftrag seines Sohnes Nikolaus der Überbringer jenes Briefes sei, der im Sequanerland verlorengegangen und jetzt in
seiner Hand wiederum gefunden worden sei. Durch dieses Wunder wurde der Bote mit Herzensfreude und Bewunderung erfüllt.
Nicht vergessen darf man jenes Ereignis, das einem Mann aus dem Bernbiet geschah. Dieser hatte ein schweres Fussleiden und konnte vor Schmerzen nicht mehr Ruhe finden. Um Heilung zu erlangen, gelobte er Unserer Lieben Frau vom Ranft und ihrem Diener Nikolaus als Votivgabe einen wächsernen Fuss zu stiften. Er wurde gesund, führte aber sein Versprechen nicht aus, sondern liess es jahrelang unerfüllt. Da kehrte das gleiche Leiden noch viel stärker zurück. Der Mensch erinnerte sich seines vernachlässigten Gelübdes und beeilte sich, es nun so rasch als möglich zu erfüllen. Nachdem er die Wachsgabe auf den Altar der hilfreichen Jungfrau gelegt hatte, empfahl er sich demütig der Fürbitte des Bruder Klaus. Dieser betete inständig über ihn, da wurde der Kranke vollständig von seinem Leiden befreit.

HEILIGES STERBEN
Als die Zeit erfüllt war, wo der barmherzige Gott seinen treuen Diener aus der Mühsal dieses Lebens zu den ewigen Freuden hinüberführen wollte, verfügte er, dass er zuvor an einer schweren Krankheit leiden sollte. Diese ergriff den ganzen Körper. Nikolaus klagte aus angstvoller Seele über den innerlichen Schmerz in Gebein und Sehnen. Sein Fleisch war beinahe verzehrt und abgestorben. Er wand sich hin und her und konnte nirgends Ruhe finden. Als er dieses grosse Leiden bis zum achten Tage in menschlicher Armseligkeit, doch tapferer Geduld getragen hatte, verlangte er sehnlichst nach der Wegzehnmg des heilsamen Leibes und Blutes Christi. Nachdem er sie mit höchster Ehrfurcht empfangen hatte (er
lag dabei nach seiner Gewohnheit auf dem blossen Boden ausgestreckt) hauchte er mit Danksagımgen und unter grossen Schmerzen seine Seele aus, am 21. März des Jahres 1487 nach Christi Geburt, siebenzig Jahre alt.

VERKLÄRTES GRAB
Wie es im Lande Sitte ist, lud man den entseelten Körper auf eine Bahre und trug ihn (wie er zu Lebzeiten befohlen hatte) zur Kirche des heiligen Walliser-Bischof’s Theodul nach Sachseln. Dort wurde er im Beisein nicht bloss seiner Frau und Kinder und Anverwandten sondern unter der Anteilnahme einer ungeheuren Menge von Priestern und Landsleuten aus ganz Unterwalden mit zahlreichen Messopfern und feierlichem Leichengepränge ehrenvoll bestattet, allgemein betrauert und von sehr vielen beweint. Am Tage nachdem der selige Vater verschieden war, kam Dorothea, die Gattin, zur Totengruft, um dort zu beten. Da eilte ihr ein Bote nach und tröstete sie mit kurzen Worten, indem er sagte, er habe den verstorbenen Nikolaus über jenem Felsen (von dem wir sagten, dass er dem Geschlecht den Namen gab) in
strahlender Verklärung gesehen, die Fahne mit der Bärentatze in der Hand. Alle feindlichen Mächte seien durch die Standhaftigkeit jenes tapferen Mannes besiegt.

Schon zu Lebzeiten hielt das christgläubige Volk die Lehren und Gespräche des Dieners Gottes als wahre Tugendsterne in Ehren. Nun, da er tot und seinem Volke entrückt war, wollte Gott die Seinen des stärkenden Trostes nicht beraubt in täglicher Klage zurücklassen. So hat er denn bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört, auf Bruder Klausens Fürbitte hin durch viele und verschiedenartige Wunder sein Volk zu trösten. (Es folgen nun in dem Werk dreissig mit Namen und Krankheitsart genau beschriebene Wunder. Wölflin schliesst seinen Wunder-Katalog mit folgenden Worten ab)

Um es kurz zusammenzufassen: es scheint beim Hören fast nicht glaubhaft, durch wie grosse und wie viele Wunder jener selige Vater Nikolaus von Tag zu Tag leuchtet. Es gibt beinahe keine Krankheitsart, die durch seine Fürbitte nicht geheilt wird. Am meisten sind es Fieberkranke, die dort erhört werden und nach erhaltener Genesung Votivgaben abgeben. Solches ist nicht bloss dem dortigen Seelsorger, sondern allen frommen Kirchgenossen von Sachseln offenbarlich bekannt.

WÖLFLINS SCHLUSSWORT AN UNTERWALDEN
Dieses, Ihr Männer von Unterwalden, ist mir über Euren seligen Vater und Landsmann Niklaus für meine Lebensbeschreibung mitgeteilt worden. Wenn auch all diese Dinge wahr sind, so sollen sie Euch nicht dazu verleiten, Euch unüberlegt damit zu rühmen, sondern vielmehr die christliche Religion umso tiefer zu erfassen und zu mehren.
Was konnte der allerhöchste Gott Eurem Lande Besseres schenken, als dass er Euren Staat, der unter dem Schutze des seligen Eremiten stand, friedlich und unversehrt durch so gefährliche Zeiten führte ımd bewahrte. Es ist jedermann bekannt, dass seine Fürbitte bis heute öfters nicht nur seinen Landsleuten, sondern dem ganzen Schweizerbunde geholfen hat. Ihr sollt daher alles daran setzen, um die Wohltaten eines solchen Fürsprechers zur Verherrlichung Gottes und zu Eurer eigenen Erbauung zu benützen. Wenn Ihr das tut, werdet Ihr Euch nie beklagen müssen, seines Beistandes beraubt zu sein. Ich habe dieses Werk mit offenem Sinn und mit herzlicher Zuneigung gegen alle Unterwaldner verfasst. An Euch liegt es nun., es weiter zu verbreiten, damit die Getrenen des Bruder Klaus den Anwürfen eifersüchtiger Gegner (falls es noch solche gibt) leichter begegnen können und sich selber das Beispiel seiner Frömmigkeit vor Augen halten ımd viele für die Nachfolge Christi und die Nachahmung seines getreuen Dieners entflammen mögen. Ich bitte den geneigten Leser, mir nicht zu zürnen, wenn er an einem unpassenden oder zu wenig fein ausgedachten Wort sich stossen sollte. Mehr als um den Stil und ausgefeilte Worte bemühte ich mich
darum, die Wahrheit festzuhalten.

Heinrich Wölflin

niklaus von flüe

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